Die Massaker von Marzabotto: Ein Kriegsverbrechen in Italien – Essener Erinnerungsarbeit

Die Massaker von Marzabotto: Ein Kriegsverbrechen in Italien – Essener Erinnerungsarbeit
Heute: Die Ruine der Kirche von Cerpiano. Die Namen der Ermordeten sind links auf der Gedenktafel

GEDENKEN – In Essen lebte ein alter Herr, der in der Nazizeit an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt sein sollte. Grund für das  Antirassismus-Telefon, Kontakte zu den Opfern in Italien zu knüpfen, Austauschprogramme zu fördern und  eine Veranstaltungsreihe mit Ausstellung in Essen zu organisieren. Zusätzlich haben wir den wichtigsten historischen Zeitzeugenberichtes ins Deutsche übersetzt und der Öffentlichkeit als Broschüre zur Verfügung gestellt (siehe unten).

 

Anlass: Ein angeblicher Nazi-Kriegsverbrecher lebte in Essen

Am 11.04.2002 berichtete die TV-Sendung „Kontraste“ über einen in Essen lebenden alten Herrn, der beschuldigt wurde, in Italien an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen zu sein.

Im Jahr 1944 wurden von den Deutschen u.a. ca. 50 Einwohner (Frauen, Kinder, Ältere) von Cerpiano bei Marzabotto in der Kirche eingeschlossen. Sie sollten alle erschossen werden. Nur einzelne konnten unter den Toten versteckt überleben.
Der SS-Unterscharführer Albrecht Meyer soll nach Zeugenaussagen Granaten in die Kirche geworfen haben. – „Um diese Menschen noch mehr leiden zu lassen“, soll er sich gerühmt haben.

Über die schrecklichen Ereignisse, die im September/Oktober 1944 in der Umgebung von Marzabotto geschahen, gibt es einen ausführlichen Bericht, der kurz danach erstellt wurde. Das Anti-Rassismus-Telefon hat ihn erstmalig ins Deutsche übersetzt.
Die gedruckte Broschüre ist gegen einen Unkostenbeitrag bei uns erhältlich.

Nur eine Episode im großen, länderübergreifenden Massenmord der Nazis!? Lange her!?

Der Essener Albrecht Meyer ist inzwischen längst gestorben – Übrigens, ohne sich je vor Gericht verantworten zu müssen.

Warum das Anti-Rassismus-Telefon aktiv wurde

Das Anti-Rassismus-Telefon kämpft selbstverständlich gegen alle Nazi-Umtriebe – gegen die Verbrechen der Alten Nazis und die ihrer Nachfolger. Deshalb unterstützen wir z.B. nach Kräften das Essener Bündnis Runder Tisch für Menschenrechte, das unter dem Motto Essen stellt sich quer erfolgreiche Aktionen durchführt. Auch wenn uns die Neo-Nazis viel Arbeit machen, so dürfen die Verbrechen der NS-Zeit nicht vergessen werden. Die italienischen Opfer, die deutsche Bevölkerung und auch der Beschuldigte haben ein Recht darauf, dass Kriegsverbrechen in Prozessen aufgedeckt und – wenn möglich – gesühnt werden.

Das Anti-Rassismus-Telefon hat Kontakt mit Italien aufgenommen. Vertreter von uns sprachen dort mit den Opferverbänden und den letzten noch lebenden Widerstandskämpfern.

Ein Ergebnis userer Arbeit war die Ausstellung Partigiani, die wir zusammen mit der Veranstaltungsreihe Krieg und Menschenrechte vom 19.10 bis zum 18.11.2005 in der Essener Volkshochschule durchgeführt haben.

  • Warnung: Die kommenden Texte und der Augenzeugenbericht enthalten explizite Beschreibungen von Gewalttaten.

Die Broschüre:

Vorwort

In der Zeit von August bis September 1945 hat Frau Mary Toffoletti Romagnoli eines der ersten umfassende Zeugnis über den Massenmord der Nazi-Faschisten in Marzabotto festgehalten – den Bericht der Ursulinen­schwester Antonietta Benni, welche die Massaker in Cerpiano wie durch ein Wunder überlebt hat und sich im Einzelnen deutlich erinnerte. Der Bericht wurde Cardinal Nasalli Rocca, Erzbischof von Bologna, ausgehändigt, damit die insgesamt 955 ermordete Zivilisten nicht in Vergessenheit gerieten. 583 stammten aus Marzabotto, 191 aus Grizzana, 181 aus Monzuno – den drei Ge­meinden, welche dem Verbrechen zum Opfer fielen. Unter ihnen waren 216 Kinder, 316 Frauen, 141 über 60 Jährige, sowie fünf Pfarrer, die demnächst se­lig gesprochen werden sollen.

Über das, was in unseren Gebieten geschah, dem größten Massenmord im westlichen Europa, ist gerade auch in letzter Zeit Vieles gesagt und ges­chrieben worden, was einem sich allmählich in ganz Europa ausbreitenden „Revisionismus“ dient und auf die Entstellung der Erinnerung, die Verfäl­schung der Geschichte und die Nichtanerkennung der Wahrheit zielt. Dies begann bereits in den sechziger Jahren in nachfaschistischen Deutschland und Österreich mit dem Buch „Die Lüge von Marzabotto“ von Lothar Greil und mit einer schändlichen Kampagne für die Haftentlassung von Walter Reder, der zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war.

In der Urteilsbegründung des italienischen Militärischen Gerichtes heißt es über Reder: „Der Beschuldigte hat nicht nur willentlich die Pflichten eines Solda­ten, der Wert ist, Mitglied der menschlichen Gemeinschaft zu sein ignoriert, sondern ist zu einer Niedrigkeit und Grausamkeit her­abgesunken, bis auf das Niveau von Leuten, die als ‚gemeine Verbrecher‘ tituliert werden, die morden, erpressen, zerstören und vergewaltigen.“

Jörg Haider, die Begriffe der radikalen Rechten übernehmend, bezeichnete einen solchen Kriminellen als „Soldat, der seine Pflicht getan hat“ und die Angehörigen der Waffen-SS, die scheußliche Verbrechen auf sich geladen haben, als „anständige, charak­terstarke Leute, die ihre Meinung nie geändert haben“. Diese sind die Ansich­ten, die man in der Tagesmeldung des Deutschen Armeeoberkommandos vom 2. Oktober 1944 findet. Hier wurde der Völkermord, noch während die Massa­ker in Gang waren, als „eine siegreiche militärische Aktion mit 718 ge­töteten Feinden, von denen 497 Banditen und 221 Unterstützer waren“, dargestellt ( – gleich Zahl wie die der getöteten Kinder und Pfarrer). Unsere Märtyrer werden beleidigt und ihre Opfer darüber hinaus besudelt.

Gerne wiederholen wir hier Teile der Reden, die am 17. April 2002 in San Martino di Monte Sole gehalten wurden. Bei diesem Ereignis sagte Johannes Rau, damals deutscher Bundespräsident: „Es ist heute fast unmöglich sich vorzustellen, was an diesem kalten und dunklen 29. September 1944 passierte. Am Morgen kamen die mit schwarzen Uniformen gekleideten Mörder wie Hyänen an, … um jede Spur von menschlichem Leben zu tilgen. Wenn ich an die Kinder denke, an die Mütter, an ganze Familien, die Opfer des Gemetzel wurden, bin ich von tiefer Trauer und Scham er­griffen. Ich verneige mich vor den Toten. Ihr habt die Erinnerung wach gehalten… nicht, um den Hass am Leben zu halten oder um Rache zu nehmen. Ihr habt es getan aus Liebe für unsere Zukunft“. Einer der Hauptplätze von Marzabotto trägt den Namen „Hans und Sophie Scholl, deutsche Märtyrer der Freiheit“. Und Carlo Azelio Ciampi, Präsident unserer Republik, setzte hinzu: „Wir sind hier versammelt, damit die Erinnerung lebendig bleibt und das Andenken, von Generation zu Generation weitergereicht, zu Mahnung,zu Leitgedanken und zur Garantie der Würde des Menschen wird. … Nie wieder Hass, nie wieder Blut zwischen den Völker Europa. … Auf den Begräbnissen unserer Lieben, auf den Trümmern unserer Häuser haben wir uns, unmittelbar nachdem die Waffen schwiegen, geschworen, Frieden und Brüderlichkeit herrschen zu lassen.“

Mit der Herausgabe unserer Untersuchungen im Band „Marzabotto, quanti, chi e dove“ (M., wie viele, wer und wo) haben wir die barbarischen Handlungen angeprangt, die diese ehrlosen Menschen verübt haben.

Indem wir die Erinnerung, die Geschichte, die moralischen Werte der Vergangenheit wiedergewinnen, haben wir die Kraft der Vernunft zum Frie­den, zum Respekt der Freiheit und der Rechte der Anderen und der Dinge in einer unun­terbrochen Arbeit für die Gerechtigkeit in Brüderlichkeit in Italien, in Deutschland und in Europa und für die Versöhnung aller Völker gewonnen. Wir habe überall die Samen der weltweiten Zusammenarbeit gelegt.

Dante Cruicchi

Antifaschist, nach Frankreich emigriert, Widerstandskämpfer, Deportiert in die Lager der Nazis, früherer Bürgermeister von Marzabotto,Präsident des Regionalkomitee zur Ehrung der Gefallenen von Marzabotto, Generalsekretär der Union der Märtyrerstädten. Er wurde in Deutschland mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse und mit der Wilhelm Leuschner-Medaille geehrt.

Der Augenzeugenbericht  von Antonietta Benni

COR JESUS ADVENIAT REGNUM TUUM

Eure Eminenz,

ich füge mich gern Ihrem Wunsch, indem ich alles, was ich weiß, über die Massaker und die Zerstörungen der zwei Pfar­reien von San Martino und Ca­saglia di Caprara, sowie insbesonde­re über die Ort­schaft von Cerpiano, dar­lege. Wir waren dorthin seit dem Juli 1943 evakuiert worden in den so genannten ‚Palazzo‘, das Haus der Töchter von Sant’Angela, die im Herbst 1944 hier den Kinder­garten wieder eröffnet hatten.

Seit Januar 1944 waren im ganzen hochgelegenen Gebiet dieser zwei Pfarreien die so ge­nannten ‚Rebellen‘, die Partisa­nen, auf­ge­taucht. Diese wurden immer zahlreicher unter Ma­rio Musolesi ‚Lupo‘, dem Befehlshaber der Brigade ‚Roter Stern‘. Wir sahen diese Jungen von wei­tem und abends vorbeigehen. Am Anfang vermieden sie selbst, sich der Bevölke­rung zu zeigen. Nach und nach wurden sie zahlreicher, und wir hatten Gele­genheiten, Gruppen von ihnen in vielen Häusern zu treffen, weil sie in Heuschobern und Ställen provisorisch unterkamen.

Die Bauern gaben ihnen zu essen, und man merkte, dass ihre Organisa­tion immer besser wur­de. Ich kann sagen, dass drei würdige Priester, die zu unserer klei­nen Ka­pelle von Cerpiano kamen, um die Messe zu lesen (und die alle barbarisch von den Deut­schen umgebracht wurden), sich von vornherein um die Unterstützung dieser jungen Leute bemüht ha­ben. Sie waren überzeugt, dass es ihre Pflicht war, ihnen auf jede Art und Weise zu helfen, trotz der Drohungen und Verwarnungen, die jeder von ihnen erhielt. Wiederholt war die Rede von Strafen und Vergeltungen, die ab dem 25. Mai (das war der letzte Ter­min um die versprengten Soldaten der faschistisch -repub­li­kanischen Regierung zu melden) fällig sein würden.

 

Zwei schmerzreiche und blutige Scharmützel zwischen Fa­schisten und Partisanen in Gardeletta, von der Presse bekannt gemacht, hatten schon die Gemüter stark erregt. Die ersten Bombar­die­rungen auf Vado am 18 und 19. Mai hatten das Leben in dieser Ortschaft zunichte gemacht. Die Errichtung starker deutscher Flugabwehrgeschütze auf dem gegenüber­liegenden Hang (Mon­zuno) zwischen dem 16. und dem 27. Mai ließ sehr ernsthafte Konsequenzen befürchten.

 

Zu Pfingsten, dem 28. Mai, wurden wir um 5 Uhr morgens durch schrecklichen Kanonendonner geweckt, der drei Stunden lang un­seren Berghang abtragen zu wollen schien. Wir mussten alle im Keller Schutz suchen. Nachdem die Kanonen aufgehört hatten, fing das Knattern der MGs und das Hin- und Herlaufen der Parti­sanen von einem zum anderen Wachposten an: Sie sagten uns, dass die Deutschen von ver­schiedenen Stellen aufzusteigen ver­suchten. In der Zwischenzeit bom­bardierten verschiedene Forma­tionen von Bombenflugzeugen, die den Partisanen unerwartet zu Hilfe gekommen waren, beide Hänge. Die Lage wurde dadurch noch dramatischer. Gleich­zeitig schoss die deutsche Flugabwehr­artillerie ununter­brochen von vier Seiten: ein apoka­lyptisches Gefühl.

 

Der junge Pfarrer von San Martino und geistlicher Verwalter von Ca­saglia, Don Ubaldo Marchioni, konnte nicht nach Casa­glia kommen, um die heilige Messe zu lesen.

 

Gegen Mittag wurden wir informiert, dass die Deutschen von den Parti­sanen trotz des Ungleichgewichtes der Kräfte und der Mittel zurückge­worfen worden waren.

 

Eure Eminenz wird besonders schätzen, dass einer der Partisa­nen sofort zu dem Priester gelaufen kam, um eine Messe als Dank für den Sieg lesen zu lassen.

Die Angst der Bevölkerung wuchs allerdings stark. Man sah in Villa d’Ignano Häuser brennen.

 

Am Montag, den 29. um 5 Uhr morgens, konnten wir wieder wie an den vorhergehenden Tagen die Kanonenmusik ge­nießen. Wir wurden insgeheim informiert, dass die Partisanen in der Nacht weggegangen waren, um sich in Grizzana zu ver­sammeln. Wir hatten sofort das Gefühl, den Deutschen aus­geliefert zu sein. Die sonderbarsten Befehle, die der eine oder der andere am Nach­mit­tag mitbrachte, ließen unsere Sorge größer werden. Wir wussten nicht mehr, was tun: der eine dachte an Weggehen, der andere fürchtete noch größere Ver­gel­tungen gegen die verlassenen Häu­ser, wieder andere machten sich Illusionen mit übertriebenem Op­timismus. Beinahe alle aber haben angefangen, einige Sachen in Sicher­heit zu bringen. Es war eine sonderbare Prozession von wei­nenden Menschen, die ihre teuerste oder nützlichste Habe in die Wälder schleppte, um sie zu vergraben!

 

Der Keller vom ‚Palazzo‘ war zum Schutzraum für alle Men­schen und Sachen geworden. In einem der Räume hatte man mittels ei­niger Matratzen ein großes Bett gebaut, um alle Kinder von Cer­piano – und das waren nicht wenige- schlafen zu legen. Man sagte nämlich, dass die Geschütze nachts alle Häuser zerstören würden. Dienstag morgen um 5 Uhr war für einige Stunden nach einer sehr bedrückenden Nacht die ge­wohnte Kanonenmusik wieder da. Die Häuserbrände rückten näher und waren häufiger zu sehen. Wir begriffen, dass die SS bald kommen würde, weil wir die Brandraketen sahen, die ihnen vorausgingen, und die MG-Salven näher kommen hörten. Was tun?

 

Zusammen mit der guten Erzieherin Antonietta Benni, ‚Tochter von Sant’Angela‘, sammelten wir alle Kinder und Erwachsene vor dem Leib Jesus in der Kapelle des ‚Palazzo‘. Dann haben wir ent­schieden, alle Kinder im Kindergarten zusam­men­kommen zu las­sen, als ob ein normaler Schultag wäre, und die Eltern sollten wie zur Unterstützung bei ihnen bleiben.

 

Kurz danach stürmten die SS Soldaten mit beängstigendem Ge­schrei und Schießereien wie Jagdhunde auf der Suche nach Beute von den Bergen herunter. Sie drangen in den ‚Palazzo‘ durch den Eingang des Kindergartens ein und wurden etwas fassungslos, als sie so viele Kinder sahen. Sie ließen uns alle hinausgehen und ver­langten in unhöflichem Ton unsere Pa­piere. Einige von ihnen ka­men ins Haus, um es zu durch­suchen, und fragten uns immer wie­der, ob wir Waffen oder Partisanen versteckten. Nach einer Stun­de gingen sie endlich, und wir glaubten schon, unser „Magnificat“ singen zu können, auch deshalb, weil die Häuser der Bauern von Cerpiano nicht durchsucht worden waren. Aber da kam eine an­dere, noch viel größere SS-Mannschaft, die noch unhöflicher und härter ins Haus einfiel. Es fand eine weitere Durchsu­chung statt, begleitet von Geschrei, Drohungen, Gewehrschüsse gegen Möbel und Türen, die nicht schnell genug geöffnet wurden. Als diese SS-Truppe Cerpiano verließ, bemerkten wir, dass ähnliches in allen Häusern stattgefunden hatte.

Die Deutschen blieben noch fünf Tage. Sie führten immer wieder Durchsuchungen durch, verbrannten einige Häuser und Heu­scho­ber, vor allem aber raubten sie systematisch alles Vieh.

Wir haben dann im Tal Viehherden gesehen, die den Fluss Set­ta unter Führung und Begleitung von republikanischen Fa­schis­ten und Deutschen überquert haben.

 

Beim Verlassen der Gegend nach fünf Tagen haben die Deutschen es nicht unterlassen, für den möglichen Fall einer Rückkehr der Partisanen dringende Empfehlungen und Drohungen auszu­spre­chen. Und diese kamen tatsächlich im folgenden August in ein­drucksvoller Stärke zurück. Die Bevölkerung war der Mei­nung, dass die Deutschen nicht wagen würden, den anscheinend gut bewaffneten Partisanen entgegenzutreten. Das zeigt die Tat­sache, dass viele der Ein­wohner von Gardeletta, Murazze, La Quercia und auch von Vado, Rioveggio usw. hier oben Schutz gegen die ununter­brochenen Bombardierungen gesucht hatten, so dass die Häuser randvoll von Menschen waren.

 

Ende September verbreitet sich in den Bergen die schreckliche Nach­richt, dass die vorgesehene ‚Säuberungsaktion‘ unter ir­gend­einem Vergeltungsvorwand bald stattfinden würde. Am 29. Sep­tember, am Tag vom Erzengel Michael, begannen die Raub­tiere in Menschengestalt von allen Seiten aufzusteigen. Wie ge­lang es ihnen überhaupt, in die Gegend einzudringen? Es bleibt ein Ge­heimnis. Einige vermuten Verrat und dass ein armer Teufel, der einige Zeit bei den Partisanen war, genaue Informationen ge­liefert hat. Man sagte aber auch, dass sie Frauen und Kindern kei­nen Scha­den zufügen würden. Die Männer jeglichen Alters sollten sich aber um Gottes Willen verstecken! Aufgrund dessen sind Frauen, Kinder und ältere Menschen allein und ohne Schutz ge­blieben und wurden eine leichte Beute für die menschlichen Raub­tiere im Dienst von Kriminellen.

Im Folgenden einige genaue Angaben über diesen tragischen Tag, den 29. September 1944 und über den darauf folgenden 30. Sep­tember. Zwei arme Ehefrauen mit je vier Kindern haben gesehen, wie die Deutschen hoch kamen und sind aus ihrem Haus (‚Le Scope‘, dem ersten auf dem Wege) geflohen. Sie sind die ersten 10 Opfer! Auf dem Pfad, der von den Murazze nach Casaglia führt, kann man die zwei schlichten Gräber mit zwei groben Holz­kreuzen, die die Namen erwähnen, sehen. Einer der Väter hat sie einige Tage später angefertigt.

 

Er hat in die­sem Grab nicht nur seine eigene Frau mit den vier Kindern, sondern auch die Frau und vier Kinder eines Freundes bestattet. Er hat gewusst, dass der arme Familienvater, Gino Cincinnati, diese mildtätige Pflicht nicht erfüllen konnte: er war schwer verwundet und zusammen mit seinem fünften Kind im Keller seines Bauernhauses in Cer­piano untergebracht; seine alte Mutter hatte ihn zurücklassen müssen, da sie von den Deutschen vertrieben worden war. Nach der Befreiung fand man ihn in diesem Keller tot auf, verzweifelt an ein Holz ge­klammert. Die Deutschen, die versprochen hatten, ihn zum Krankenhaus zu bringen, hatten ihn stattdessen dem Hunger- und Schmerzenstod überlassen.

In Cerpiano wurde an diesem tragischen Freitag, den 29. Septem­ber, Don Marchioni erwartet, der in dem dem Schutz­engel gewid­meten Ora­torium die Messe zu lesen hatte. Aber eine wahnsinnige Panik hatte alle ergriffen, weil die Deutschen kommen sollten. Jemand hatte schon vorgeschlagen, in den Wäldern Schutz zu su­chen, und die meisten waren bereits dort­hin gegangen. Doch dann sagte jemand, dass es unvorsichtig wäre, ein so großes Haus un­be­wacht zu hinterlassen: „Sie wer­den uns suchen, sie werden ver­mu­ten, dass wir alle versteckte Parti­sanen sind und werden uns tö­ten.“ Einige bleiben, aber ca. 50 Leute kehren nach dem Rat der­jenigen, die größere Auto­rität genießen, zurück. Sie suchen Schutz in den Kellern des ‚Palazzo‘, in denen sich die Bevölkerung immer wieder bei dem häufigen Geschützfeuer versteckt hat. Die Deutschen kommen.

 

Sie zwingen diese 49 Leute, aus den Kellern in die Kapelle nahe dem ‚Palazzo‘ hinauszugehen: es sind 20 Kin­der, zwei bei­nahe invalide alte Männer und 27 Frauen, unter denen drei Lehrerinnen waren. Sie schließen sorgfältig die Türen und dann… beginnt der tödliche Wurf der Handgranaten. Es ist 9 Uhr in der Frühe, als 30 Opfer getötet sind. Wer kann be­richten, was zwi­schen diesen Mau­ern während des langes Tages, der noch län­geren Nacht und des trau­rigen Vormittags des 30. September passiert ist? Genaue Informationen haben wir von der einzigen überlebenden erwachsenen Person: der guten Ursulinen-Schwes­ter, der Kindergartenerzieherin Anto­nietta Benni, die ganze 33 Stunden lang verletzt und erschöpft, sich tot stellend, an diesem geweihten Ort zwischen Toten und Verletzten liegen ge­blieben ist. Es scheint so, als ob Gott einen Augenzeugen ge­wünscht hat, der über solche Ge­metzel berichten kann.

 

Verwundete, die klagten und um Hilfe riefen; Kinder, die weinten, Mütter, die versuchten, die überlebenden Kinder zu schützen. Ei­ne Frau, Amelia Tossani, wollte unter allen Um­ständen flüchten: als sie eine Seitentür geöffnet hatte, wurde sie von einem wach­habenden Deutschen auf der Schwelle ge­tötet, so, dass ihr Körper halb drinnen und halb draußen lag ist und nachts zum Ent­setzen aller, die dieses Drama ohnmächtig mit ansehen mussten, frei herumlaufende Schweine ihre Haare abgefressen ha­ben.

Der arme alte Pietro Oleandri hat seine Kuh brüllen hören: Er kann es nicht mehr aushalten, unter den Toten zu verweilen, unter denen die gute Ehefrau seines einzigen Sohnes, der in Deutschland ge­fan­gen ist, und zwei seiner über alles geliebten Enkel­kinder sind. Er nimmt das dritte überlebende fünfjährige Enkelkind an die Hand und will herausgehen: eine Salve … ein Mann und ein Kind sind in der Ewigkeit! Eine Frau aus Bologna, Nina Fabbroni Fabris, die seit Kurzem in den Bergen Schutz gesucht hat, ist schwer verletzt und klagt stundenlang sehr laut. Ein herzloser wachhabender Deutscher, von den Schreien belästigt, geht in die Kapelle und tötet die Unglückliche mit einem Schuss, wobei die anwesenden Überlebenden in Panik geraten.

Unterdessen prassen im nahe gelegenen Haus die Scharfrichter: sie spielen das Harmonium wie für ein Fest, essen was sie finden (z.B. Hunderte von Soleier) und verstreuen alles auf dem Boden, was sie nicht essen können: Weizen, Reis, Erbsen werden mit Dreck bestreut. Papiere, Bücher, Dokumente … alles landet auf den Boden wie in einem Anfall von tob­süchtigem Vandalismus.

Gleichzeitig lassen sie die armen Opfer in der Kapelle keine Mi­nute in Ruhe: sie haben die Tür einen Spalt breit geöffnet und durch diesen lachen sie höhnisch und unheilbringend. Nach 28 Stunden schrecklichem Todeskampf hören die 13 Überlebenden ihr Urteil: in 20 Minuten alle ‚kaputt‘. Die Ge­wehre werden laut geladen und nach kurzer Zeit auf die armen Menschen entladen: nochmals 16 Opfer. Ein Holzschild wird an die Tür dieses unge­wöhnlichen Leichenschauhaus gehängt: “Dies ist das Schicksal aller, die die Partisanen begünstigen.”

Außer der Erzieherin Antonietta Benni lebten noch zwei Kinder: Piretti Fernando, 8 Jahre, und Rossi Paolo, 6 Jahre. Die Erzieherin setzt sich auf. Sie beobachtet das schreckliche Bild und, im Glau­ben allein zu sein, sagt sie: “Alle sind gestorben! Meine Mutter! Meine liebe Tante (es war die beliebte Lehrerin Anita Serra)! Oma Rosina! Oma Giovan­na! Mein kleiner Bruder … alle sind gestorben!”

Nach einer Woche mühsamen Überdauerns im ‚Palazzo‘ haben sie erlebt, dass die Deutschen wieder zurück kamen. Besonders die wenigen überlebenden jungen Frauen mussten furchtbare Über­griffe über sich ergehen lassen. Danach wurden sie end­gültig von Cerpiano verjagt und mussten fast ohne Nahrung, nur dürftig mit Kleidung aus­gestattet, noch immer von den Deutschen durch Tod bedroht, von Schutzort zu Schutzort wandern. Nach fast zwei Mo­naten erreichten sie die Stadt.

Am 29. September, während in Cerpiano die dargestellten Ereig­nisse stattfanden, verwandelten andere schreckliche Vorkomm­nisse in allen Ortschaften der zwei Pfarreien von San Martino und Casaglia dieses Gebiet in ein Land der Toten.

In Caprara wurden 55 Personen (Frauen und Kinder) in einen Raum zusammengepfercht und durch Handgranaten getötet. Ein Kind und eine Frau aus Villa d’Ignano konnten sich durch einen Sprung aus dem Fenster retten, aber alle anderen starben. Viel­leicht hätte jemand überlebt, aber die deutsche Grausam­keit hat ihre Feinheit: das Gebäude wurde angezündet, so dass all die armen Leute verbrannten.

Eine Begebenheit unter anderen: unter diesen Leuten hatten sich Vitto­rina Venturi aus Caprara und ihre Mutter Costanza, die die dreijährige Enkelin in den Armen hielt, durch einen Sprung aus dem Fenster gerettet, während zwei andere Schwestern und die Mutter der Kleinen in dem Raum getötet worden waren und eine vierte Schwester, die sich an diesem Tag gerettet hatte, nach zwei Monaten grausamen Leidens we­gen der Wunden aus einem Bom­bardement in Casoncello starb.

Vittorina flüchtete nach San Mar­tino, wurde aber am selben Tag von den Deutschen wieder ge­schnappt und ermordet. Ihre Mutter mit der Kleinen fand wenige Tage später den Tod durch einen Kanonenschuss in Caprara di Sotto. Der Familien­vor­stand Venturi Gaetano musste, nachdem er auf diese Weise seine Frau, seine vier Töchter, die Schwägerin und die Enkelin verloren hatte, in diesen Tagen auch noch die Pein erleben, an zwei verschiedenen Stellen in San Martino die noch nicht begrabenen Leichen seiner beiden Söhne zu finden, die im September von den Deutschen verschleppt worden waren. Bei­de waren verhungert und beiden fehlte ein Fuß.

In San Martino di Caprara hatten an diesem 29. September viele weinende und bekümmerte Menschen Schutz in der Kirche ge­funden. Die Deutsche zwangen sie, heraus zu gehen, töteten sie neben dem Bauernhaus und verbrannten diesen unförmige Berg von 52 Leichen (vielleicht waren einige nur Verletzte dabei), nachdem sie sie mit Benzin übergossen hat­ten. Ein entsetzliches Detail: Einige der mit den Opfern verwandten Männern wurden gezwungen, die grausame Szene mit anzusehen. So der Vater von Don Marchioni, der so erlebt hat, wie seine Frau und seine Toch­ter umgebracht wurden. Die Familie Lorenzini hatte so 15 Tote und die Familie Luccarini 8 (die Mutter und sieben Kinder).

In Pornarini wurden 18 Personen aus einem Schutzraum heraus­geholt und im Haus ermordet.

Auch in Steccola wurden Menschen ermordet, unter anderem der alte 82-jährige Alfonso Tiviroli, der bis jetzt immer noch nur pro­visorisch neben einem Strohhaufen begraben ist. Eine zehnjährige Enkelin, Gina, stellte sich tot und irrte allein im Regen drei Tage lang ohne Essen durch den Wald. Der Vater fand sie erschöpft und verwirrt.

In San Giovanni wurden ganze 50 Opfer in einem Schutz­bun­ker abge­schlachtet. Unter ihnen die große Familie Fiori, alle sehr gute Christen; eine Tochter, Schwester Maria, Mitglied des Ordens der ‚Frommen Lehrerinnen‘ in Bologna, war damals zu Hause bei ihren Lieben und hat mit ihnen zusammen den schrecklichsten Tod gefunden. Die sechsjährige Nichte von Schwester Maria hat zunächst überlebt. Drei Tage lang hielt sie den Hals ihrer toten Mutter umklammert, sie rufend und küssend und weinend. Der Vater als einziger Überlebender hat sie so gefunden, gestorben an Hunger und Erschöpfung.

Nochmals 18 Personen bei den ‚Casoni‘.

Und die Straßen entlang… wer kann die Opfer zählen? Einige wur­den nach wenigen Tagen gefunden. So zum Beispiel eine gute Mutter, Teresina Rocca verheiratete Ruggeri, die ver­zweifelt nach ihre Tochter Anna rief, die im Friedhof von Casaglia zusammen mit anderen Familienmitgliedern schon gestorben war. Auch diese gute Familie Ruggeri aus Podella hat ganze 7 Tote gehabt. Auf den Straßen und im Wald findet man nach und nach die Leichen von vielen Männern. Zunächst 11, dann 8, dann nochmals 6, usw., alles Männer, die seit diesem Tag kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten und von den Deutschen verschleppt worden wa­ren. Wer weiß, wel­che makaberen Über­raschungen im von Leid geprüften Gebiet, das die Minen unbegehbar machen, uns noch erwarten?

Das schwerwiegendste Massaker bleibt aber das auf dem Fried­hof von Casaglia, wo 84 Personen einen erbärmlichen Tod gefunden haben, zusammen mit dem hervor­ra­gen­den jungen Pfarrer von San Martino, Don Ubaldo Mar­chioni, der auch geistlicher Verwalter von Casaglia war.

Am Morgen dieses Festtages des Heiligen Michaels will er gera­de, wie gesagt, losgehen, um die Messe in Cerpiano zu lesen, nachdem er eine fromme und ergreifende Messe in San Martino abgehalten hat, wo er alle dazu ermahnt hat, sich im Geiste für den Tod bereit zu halten. Als er an der Kirche von Casaglia vorbei geht, wo er die heilige Kom­munion zu sich nehmen wollte, findet er um die hundert Personen vor, die von einer nur zu verständ­li­chen Panik ergriffen sind. Er bleibt also bei seinen Kindern stehen, um mit ihnen den heiligen Rosen­kranz zu beten. Da kommen die gefürchteten Deutschen: Sie kommen in die Kir­che hinein und be­fehlen allen hinauszugehen, um sie in Richtung Fried­hof ein­zu­reihen. Eine arme an den Beinen gelähmte Frau ist dabei, Nanni Vittoria, die ver­sucht, sich sitzend oder an einem Stuhl haltend zu bewegen. Die Deutschen wollen sie zwingen, ihren Halt los zu las­sen und als sie feststellten, dass das nicht möglich ist, erschie­ßen sie sie in der Kirche vor den Augen aller. Im Kirchturm blei­ben die gute Enrica Ansaloni und Giovanni Betti aus Gardeletta erschossen zurück. Viel­leicht hatten sie versucht, sich zu verstecken. Sie werden im Kirch­turm. Der Ehemann von Enrica, Giuseppe Ansaloni, Bruder des verstorbenen Erzpriesters, war mit einigen Männern auf dem Monte Sole, wohin sich auch die Par­tisanen zurückgezogen hatten. Von da oben musste er ohn­mächtig das Massaker auf dem Friedhof mit ansehen. Er ist beinahe in dem Moment von Wahn erfasst worden. Man hat ihn nach Bologna gebracht, wo er nach einigen Tagen gestorben ist.

Der junge Pfarrer Don Marchioni war den Deutschen und den Faschisten gut bekannt, die ihn als ‚den großen Partisan‘ betitelt hatten. Als sie ihn in der Kirche fanden, haben sie ihn sofort erschossen.

Zwei junge Männer, die am Nachmittag des gleichen Tages mutig die brennende Kirche von Casaglia betreten haben (die Deutschen hatten sie,bevor sie weggingen, angezündet), haben uns versichert, dass sie den jungen Priester tot auf dem Altarsockel liegend gesehen haben, während die Flammen ihn um­zingelten, so, als ob sie fürchteten, seinen unbefleckten Leib zu berühren. Neben ihm stand ein großes Schild: „Rebellen, das ist euer Schicksal“. Derjenige, der nach einigen Tagen den her­vor­ragen­den Priester in dem großen Grab beigesetzt hat, das die 84 Opfer von Casaglia birgt, hat uns versichert, dass er in der Kirche voll­kommen ausgebrannt und ohne einen Fuß gefun­den worden war. Er war ein würdiger Diener Christi, der sein Leben für seine Pfarrge­meinde riskiert hat, da er in den Parti­sanen die Brüder erkannte, die Liebe, Hilfe und Verständnis brauchten. Die Deut­schen und die Faschisten hassten ihn so, dass (so wurde uns gesagt) im Ge­biet von Piop­pe di Salvaro verhaftete Priester ge­fragt wurden: „Kennt ihr den Pfarrer von San Martino?“ Das Bejahen reichte, um erschossen zu werden.

Die besten seiner Pfarrkinder preisen Don Marchioni und verehren ihn als ihren großen Freund und Wohltäter.

In der Zwischenzeit ereignete sich auf dem Friedhof von Casaglia eine andere Tragödie. In der heiligen Umfriedung befanden sich circa 90 Personen, die sich neben der Toten­kapelle und der klei­nen Umgehungs­mauer zusammengedrängt hatten. Die Gewehr­salve der deutschen MGs hat auf Anhieb circa siebzig Frauen und Kinder dahin gerafft. Die schreck­lichen Vorfälle dieses Massakers haben uns zwei junge Frauen aus Gardeletta, Lidia Pirini und Lu­cia Sabbioni, berichtet, zwei von den wenigen Überlebenden, die beide schwer verwundet mehrere Stunden lang unter den Toten gelegen hatten. Sie waren beide auf das gleiche Grab unter die vielen Toten ge­fallen. Sie haben uns erzählt, dass die Deutschen nach einiger Zeit zum Friedhof zurückgekommen sind in der Furcht, dass einige überlebt haben könnten, und aufs Geratewohl Bomben geworfen haben. Aber wer noch am Leben war, stellte sich tot. Ein neun Monate alter Säugling, Laffi Giorgio, war am Leben geblieben, während die Mutter und neun Mitglieder seiner Familie gestor­ben waren. Das Kind war auf den Boden gefallen. Man hat gesehen, wie es unter den Toten auf den Beinchen und Ärmchen über den Boden gekrochen ist, da es noch nicht laufen konnte. Es hat stark geregnet und das arme Kind ist nach einigen Stunden, die es ununterbrochen schrei­end verbracht hat, aus Hun­ger und Kälte gestorben. Ein 6-jähriges Kind namens Tonelli aus dem Possatore war unversehrt geblieben. Es geht aus der Gitter­tür, sieht sich um, geht wieder rein und sagt laut: „ Wenn jemand noch am Leben ist, soll er jetzt flüchten, wo die Deutsche nicht mehr da sind.“ Und einige stehen tatsächlich mehr oder weniger mühsam auf.

Die 15-jährige Lucia Sabbioni, an vier oder fünf Stellen verwundet, fühlt das Brennen des Fiebers, will aber unbedingt flüchten. Sie hält auf den Armen die Leiche der kleinen Schwester und hat neben sich die der Mutter und von fünf wei­teren kleinen Brüdern. Lidia Pirini liegt unter ihr und kann sich nicht bewegen. Sie bittet Lucia, ihr, bevor sie weggeht, die Leiche der kleinen Schwester auf den Leib zu legen, um bei even­tuellen anderen Schießereien geschützt zu sein. Die uns zu­ge­tra­ge­ne Unterhaltung berührt uns tief. Lucia weiß nicht, was sie tun soll; es schmerzt sie der Gedanke, dass die Leiche der geliebten Schwester noch mehr misshandelt werden kann; aber die Freundin bittet darum, … sie lebt, sie kann gerettet werden, sie zufrieden zu stellen ist ein Akt der Barmherzigkeit! Lucia kann sich nicht auf den Füßen halten: zwei junge Frauen, die wegen der Bombar­de­ments von Vado nach Gardeletta und dann nach Casaglia ge­flüchtet und beinahe unversehrt geblie­ben waren, fassen sie unter den Armen; sie zwingt sie dazu, so begierig ist sie zu flüchten. Beim Verlassen des Friedhofs geht sie an dem Tonelli-Kind vor­bei und fragt es: „Aber Du, warum flüchtest Du nicht?“ Das Kind zeigt ihr die Mutter, die fünf Brüderchen und die Schwester, die alle tot sind: „Ich will mit ihnen sterben“. Vielleicht hat Jesus das Gebet dieses armen Kindes erhört. Kurz darauf hat eine Granate es getötet. Wir wissen nicht, ob es vor oder nach seinen fünf Brü­dern gestor­ben ist, die das gleiche Schicksal erlitten haben. Der arme Vater, der so die Frau und die elf Kinder verloren hat, ist von den Deutschen gefasst und gezwungen worden, Lebensmittel und Munition auf den Bergen hin und her zu schleppen. Er wurde von einer Granate getroffen und hat ein Auge und einen Arm ver­loren.

Wie viele andere hat dieses traurige Schicksal getroffen. Lucia Sabbioni könnte noch von anderen dramatischen Vorgängen in den Wäldern erzählen: das Treffen mit einer deutschen Pa­trouille, die Nacht, die sie unter freiem Himmel im Regen unter er­schre­cken­den Geräuschen verbracht hat. Und dann die lange Liege­zeit im Krankenhaus San Luigi in Bologna.

In der Zwischenzeit hat die 16-jährige Lidia Pirini andere schmerz­hafte Szenen erlebt. Am Nachmittag dieses gleichen Ta­ges sind einige Männer vorsichtig näher gekommen, um einige Verwundete weg zubringen. Aber die arme Lidia hat niemanden, der an sie denkt.

Ihr Vetter Giorgio war neben ihr auf dem Friedhof gestorben und alle anderen Verwandten waren in Cerpiano. Die ganze Nacht bleibt sie an diesem Grab neben den Toten, und am nächsten Tag, vielleicht auch erst nachmittags, sammelt sie all ihre schwachen Kräfte und steht trotz der Wunde am Bein auf. Sie steigt in Rich­tung Cerpiano hinab in der vergeblichen Hof­fnung, jemanden aus ihrer Verwandtschaft anzu­treffen. Eine deutsche Patrouille zielt auf sie und schießt. Sie kriecht auf allen Vieren durch den Wald und erreicht endlich den Schutz­raum bei Cerpiano, wo sie von dem tragischen Schicksal ihrer Mutter und ihrer Schwester er­fährt. Erst nach zwei Tagen fin­det sie den einzigen Überlebenden, den Onkel Filippo Pirini, der in der Kapelle von Cerpiano die Frau mitsamt seinen sechs Kindern verloren hat. Die Familie Piri­ni hat 14 Opfer, 15, wenn man den Vater von Lidia mitrechnet, der bei dem ersten Angriff auf Vado gestorben ist.

Es scheint, dass einige der Toten des Massakers vom 29. Sep­tember die Segnung von zwei Priestern haben bekommen können, die dann auch in den ersten Oktobertagen barbarisch getötet wur­den: Don Giovanni Fornasini, Pfarrer von Sperticano (Marza­bot­to) und Don Ferdinando Casagrande (erst seit fünf Monaten Pfar­rer von Gugliara, Quercia, Gardeletta, Murazze, der neuen Pfarrei, die Eure Eminenz gegründet hat).

Don Giovanni Fornasini, junger und glühender Apostel, war den Parti­sanen und den Deutschen wohl bekannt. Es ist jetzt sicher, dass er da oben in San Martino einige Tagen nach der Razzia er­mordet wurde. Man erzählte uns, dass seine Ver­zweiflung über die Massaker vom 29. und 30. September unsagbar war. Er konnte es nicht fassen, zumal die deutsche Kommandostelle, der er schon mehrmals einige Opfer ent­rissen hatte, ihm anscheinend die Zusi­cherung gegeben hatte, dass Frauen und Kindern kein Schaden zu­gefügt werden sollte. Es scheint, dass er bei der Kommandostelle vorgesprochen hatte, um wegen der Tötung von so vielen Un­schuldigen zu protestieren, und dass ein deutscher Offizier sich mit ihm in Sperticano abgesprochen hatte, um ihn als Führer für eine Art Ortstermin in San Martino und Caprara zu haben. Man sagt, dass, nachdem sie den Friedhof von San Martino erreicht hatten, Don Fornasini seinem Begleiter mit den entsprechenden Kommentaren gezeigt hat, dass die Toten sicher keine Männer, und noch weniger Partisanen waren.

Der niederträchtige Offi­zier hätte es für nötig gehalten, den gefährliche Zeugen vor Ort durch einen Revol­verschuss zu beseitigen. Die arme Mutter von Don Fornasini, die verängstigt im Pfarrhaus von Sper­ticano die Rück­kehr des Sohnes erwartete, wurde vom zyni­schen Mörder selbst informiert, dass eine feindliche Granate ihn unterwegs getötet hat­te. Sein Leichnam blieb sieben Monaten lang der Witterung aus­ge­setzt, neben der Leiche eines guten Mannes aus Caprara (Mo­schetti), der am gleichen Tag getötet worden war. Die Mitglieder der Pfarrgemeinde von Sperticano haben ihm nach der Befreiung ein frommes Be­gräbnis am Ort seines Märty­rertodes zukommen lassen in Erwartung, dass ihm das pflichtgemäße Seelenamt in seiner Pfarrei gewährt würde.

Auch Don Ferdinando Casagrande wurde von den Deutschen er­mordet. Wir hatten die Hoffnung, dass er verschont worden sei und die Front­linie überquert hätte, weil man ihn nach den tragi­schen Tagen des 29. und 30. September lebendig gesehen hatte. Aber nach der Befreiung haben wir von seinem alten Vater, dem einzigen Überlebenden der Familie, die traurige Wahrheit er­fahren. Don Ferdinando verweilte in diesen tra­gischen Tagen bei seiner Familie (Vater, Mutter, drei Schwestern und einem Bruder) in einem den Deutschen nicht bekann­ten Schutzraum in San Martino. Anfang Oktober wurden sie in ihrem Schutzraum von Hunger gequält. Am 8. Oktober wurde eine der Schwestern, die den Schutzraum verlassen hatte, durch einen Granaten­schuss getötet. Don Ferdinando, der immer seine Ruhe und sein Ver­trauen bewahrt hatte, beschloss dann, die nächste deutsche Kommando­stelle aufzusuchen, um einen Passierschein für sich und seine Familie zu erbitten, um nach la Quercia hinab steigen zu können. Die Schwester Giulia, die so gute Erzieherin des Kindergartens in la Gardeletta, wollte ihn nicht allein gehen lassen und begleitete ihn. Die armen jungen Leu­te! Sie sind nicht mehr zurückgekehrt. Um­sonst erwarten sie Eltern und Geschwister in diesem Schutz­raum, wo der Tod schon seine Flügel aus­gebreitet hat!

Der alte Vater entschließt sich dann, mit den Übrig geblieben nachts weg­zu­gehen, um zu versuchen, die Frontlinie zu über­queren. Aber nach wenigen Schritten verwundet ihn ein Kanonenschuss und tötet vor seinen Augen die Frau, die einzig übrig gebliebene To­chter und den anderen Sohn. Verletzt, muss er auch diese drei Toten ver­lassen; er erreicht la Quercia in einem bemitleidens­werten Zu­stand. Nach zwanzig Tagen unerhörten Leidens kann er in Beglei­tung eines jungen Mannes die Leichnams seiner drei Lieben wie­der erreichen und sie im Wald begraben. Er kann auch den Schutzraum betreten, um die zuerst getötete Tochter zu be­graben. Er hegt noch eine winzige Hoff­nung, seinen Don Ferdi­nando und seine Giulia wieder zu sehen. Aber von ihnen keine Spur! Er geht wieder nach la Quercia, kann die Front­linie über­queren und wird von den Amerikanern zuerst in Florenz und dann in Rom medizi­nisch versorgt, immer noch ohne das Schicksal sei­ner Kinder zu kennen. Er erwartet ungeduldig die Befreiung, und kommt Ende April wieder zum Ort seines Leidens. Dort findet er die Leichen der drei Toten im Wald, kann aber die Leiche der To­chter, die er im Schutzraum begra­ben hat, nicht wieder erreichen, weil der Schutzraum vermint ist. Gerade in diesen Tagen ist der Leichnam von Don Ferdi­nando wieder gefunden und ohne jeg­lichen Zweifel neben dem seiner guten Schwester erkannt worden.

Es scheint sehr klar, wie ihre Tragödie sich ereignet hat. Die Deu­tschen taten so, als ob sie den Antrag des guten Priesters an­neh­men wollten und versprachen ihm, die ganze Familie abzuholen. Aber sobald die zwei Geschwister sich einige Schritte auf den Weg, der sie zum Schutzraum führen sollte, begeben hatten, setzte ein Gewehr­schuss in den Hinterkopf den zwei wertvollen Leben ein Ende. So sind sie zusammen gestorben, die zwei Geschwister, die zusam­men für das Wohl von so vielen Seelen gearbeitet hat­ten. Ein gemeinsames Grab birgt jetzt die fünf Leichnams auf dem Fried­hof von San Martino, und ein Schild aus Holz mit einem be­deu­tungsvollen Text kündet von der traurigen Wahrheit. Auch Don Ferdinando Casagrande war ein sehr würdiger Priester. Er hatte den Seelen alle seine außergewöhnlichen Eigenschaften und Ener­gien geschenkt und bei seinen schwe­ren Lebensbedingungen war es ihm gelungen, wirklich denen zu helfen, die den Diener Gottes benötigten.

Die schmerzhafte Chronik vollendet sich acht Tage später mit dem Massaker im Schutzraum in Ca‘ di Biguzzi am 5 Oktober 1944.

23 Per­sonen haben dort einen schrecklichen Tod gefun­den, und noch schmerz­hafter ist es, dass einige von ihnen zu den Über­lebenden der Tragödien von Casaglia und Caprara gehörten. Drei Familien aus Gardeletta, zwei aus la Quercia, die Familie Pe­driali aus dem Bahnwärterhaus in Ca‘ di Biguzzi selbst, mit drei Kin­dern, eines davon sieben Monate alt. Neun Männer wurden von den Deutschen zuerst aus dem Schutzraum herausgeholt und zur Arbeit geführt, während Frauen und Kinder in der Nähe des Rau­mes ermordet wurden. Nach zwei Stunden Arbeit wurden den Männern die Geldbeutel und was sie sonst dabei hatten, geraubt. Sie wurden dann in einer Reihe aufgestellt und von hinten er­schossen. Einer von ihnen, der gute Maurerpolier Domenico Betti, Bruder von Giovanni Betti, der im Kirchturm von Casaglia getötet wurde, wurde am Hals verwundet, stellte sich tot und konnte da­nach flüchten. Er er­zählte uns die Einzelheiten mit der Bitter­keit von einem, der alles verlo­ren hat und allein in der Welt zurück­geblieben ist.

Die Überlebenden dieses schrecklichen Dramas, fast aus­schließ­lich Männer, die die Deutschen zusammen getrieben hatten, sind beinah alle früher oder später wegen der Bombengefahr in Bolo­gna gelandet. Aber nicht wie die anderen Flüchtlinge aus Pianoro, Musiano, Liano usw., die von den Einwohnern von Bologna in öffentlicher Mildtätigkeit und christlichem Mitleid als leidende und der Fürsorge bedürftige Brüder aufgenommen wurden. Kei­neswegs! Diese armen Leute, vom Erlebten verwirrt und ver­ängstigt, von den republi­kanischen Faschisten als Men­schen ver­folgt, die „aus politisch verseuchten Orten“, aus „dem Parti­sanennest“ stammten, er­hielten Behelfsunterkünfte in den Häuserruinen der Straßen Lame, Saffi und Galliera. Sie haben beinahe im Ver­steck und ständig argwöhnisch gelebt. Eure Eminenz wird sich erinnern, dass sie einzeln von der guten Erzieherin, der Ursu­li­ne­rin Ant­tonietta Benni wiedergefunden wurden und monatlich in die Kapelle der Guarini zu einem Seelenamt, das Monsignor Al­fonso Brini in Erinnerung ihrer lieben Toten abhielt, zusammen gebracht wurden. Er richtete liebevolle und väterliche Worte der Unterstützung an sie. Es war dies die Gelegen­heit, zu­sammen zu kommen und ihren jeweiligen Schmerz im Gebet zusammen zu führen, im Gedenken an die Menschen, die schmerz­haft dem Leben entrissen worden waren und in Erin­nerung an die zerstören Häuser und die verdorbenen Felder. Eure Eminenz wird sich erin­nern, dass anlässlich des heiligen Osterfestes, das sie gemein­sam begangen haben, das fromme Gebet verteilt wurde, das ei­gens für sie geschrieben worden war, zu dem Eure Eminenz einen 30-tägigen Ablass gewährt hat.

Nach der Befreiung hat man geglaubt, dass auch für diese armen Leute bessere Tage kommen würden. Aber was für ein Schmerz war für sie alle die Rückkehr in dieses unbewohnbare Gebiet, wo man keinen Schritt außerhalb der Straßen gehen konnte, ohne von einer Mine zer­rissen zu werden (die kleineren Wege sind fast nicht zugänglich). Wie traurig, alle Häuser am Boden zerstört, die Bäume teilweise ausgerissen und ausge­trocknet, die Felder nicht kultiviert und von Minen verseucht zu sehen!

Auch wir sind am 8. August 1945 zurückgegangen und be­richten auf Wunsch Eurer Eminenz, was wir mit eigenen Augen gesehen haben.

Die Ortschaft von Murazze ist beinahe zerstört, bewohnbar sind nur zwei Häuser, und auch diese nur teilweise. Die kleine Kapelle hat an einer Stelle das Dach verloren; die Madonna auf dem Hauptaltar ist unversehrt; die Wand der Sakristei, wo die Außen­tür war, ist herausgerissen, und alles, was in der Kapelle war, ein­schließlich der Mess­gewänder und der heiligen Gefäße, ist zer­stört worden.

Wir sind nach Cerpiano aufgestiegen entlang der Straße aus Mu­razze. Diese ist zu einem Kriegspfad geworden. Die Solda­ten ha­ben für länge­re Monate dort verweilt, so dass sie sie in eine Reihe von Notunter­ständen verwandelt haben. An einer Stelle ist sie in der ganzen Breite durch eng anliegende Rollen Stacheldraht ge­sperrt. Minen, Handgrana­ten, Draht und Lei­tungen jeglicher Art, Kassetten von Munition, Patronen­haufen, Säcke mit Erde, Klei­dungsstücke von Soldaten tragen dazu bei, dass der Durch­kom­men schwer und gefährlich ist. Die Über­lebenden haben keine an­dere Wahl als die äußerst gefährliche Rückkehr zu den zerstörten Häusern des hochgelegenen Gebie­tes, um zu versu­chen, in den Trümmern etwas wiederzufinden.

Von Zeit zu Zeit bemerkt man einen unerträglichen Gestank. Aber wer hat noch den Mut, die Gegend zu durchsuchen. Obwohl man den trau­rigen Gedanken hat, dass man vielleicht die Leichen von einigen der armen Menschen, die verschollen sind, wiederfinden könnte!

‚Cà di Germino‘ ist fast am Boden zerstört, ‚Le Scope‘ existiert nicht mehr. Aber das Herz schmerzt am meisten, wenn man am Ende des mühsamen Aufstiegs die Stelle erreicht, wo man früher die schöne Kir­che von Casaglia, den Friedhof, Dizzola, Poggialto und die Häusergruppe von Cerpiano sehen konnte. Was für eine Zerstörung. Es wurde so viel darüber geredet, aber der Eindruck ist schlimmer als jede Erwartung .

Die Kapelle von Cerpiano hat keine Tür mehr und ist so voll von Trüm­mern, dass der Altar davon bedeckt ist.
Wir haben aber feststellen können, dass der heilige Stein unversehrt ist. Ein Vier­tel des Daches und eine Seitenwand sind aufgerissen. Das Ölgemälde des Hauptaltars, obwohl durch Splitter getrof­fen, könn­te vielleicht noch gerettet werden.

Draußen neben der kleinen Kirche ist das Grab, das die 46 Opfer ent­hält, umgeben von Eisenbruchstücken, die die Über­lebenden nach der Befreiung dort hingelegt haben. Und das Kreuz des Haupt­altares ist darauf gepflanzt worden.

Daneben ist die Grabstelle von Gino Cincinnati, der, wie ge­sagt, nach der Befreiung tot im Keller aufgefunden worden war. Der so genannte ‚Palazzo‘ ist vollständig am Boden zer­stört und ebenso die Grundschule. Es bleiben nur die vier Eck­pfeiler stehen. Wenn man sich der Tür des Kellers nähert, der anscheinend unversehrt ist, riecht man einen uner­träglichen Gestank, und Schwärme von Fliegen und Schmeißfliegen ver­hindern den Eingang.

Das nahe gelegene Bauernhaus liegt zu zwei Dritteln am Boden und ebenso der Stall und der Heuschober. In der Küche der guten Bauern Oleandri liegt noch das Getreide zerstreut auf dem Fuß­boden und ist in der gewohnten unaussprechlichen deutschen Methode von Dreck über­häuft. Auch hier Gestank und Schmeiß­fliegen, mehr als man schildern kann.

In Casaglia sieht es so aus, als ob der heitere und freundliche Platz vor der Kirche nie existiert hätte. Nur der Kirchturm steht, aber in welchem Zustand! Die Spitze abgebrochen, eine Seite durch einen Kanonen­schuss und andere kleinere Schäden herausgerissen. Die Glocken sieht man nicht mehr, aber man hat uns gesagt, dass eine unter den Trüm­mern der Kirche liegt und eine andere sich im Kirchturm befindet.

Von der schönen Kirche, von Baldi so meisterhaft geschmückt, steht nur die gänzlich vom Feuer geschwärzte Hinterwand. Die kostbare Leinwand mit der Himmelfahrt Marias,die Elisabetta Sirani gemalt hat, ist nicht mehr da. Das ganze kostbare Zubehör der Kirche und das Kir­chengerät sind zerstört worden. Das Bauernhaus und die kleine angren­zende Wohnung …. ein riesiger Haufen Trümmer. Die drumherum gelegenen Bäume auf dem Hang wurden alle verbrannt.

Hinter der Kirche kann man jetzt den ‚Poggio di Casaglia‘ gut sehen. Aber was früher ein mächtiges Gebäude war, ist heute eine beein­druckende Anhäufung von Trümmern. Die gute christliche Familie Laffi, die darin wohnte, ist hingeschlachtet worden (9 Personen). Einer der zwei überlebenden Söhne, der schon von den Deutschen verschleppt worden war, ist gerade an jenem Tage, dem 8. August 1945, von Garde­letta zu seinen Feldern im Poggio aufgestiegen und dort auf eine Mine ge­tre­ten, die explodiert ist und ihm einen Fuß weggerafft hat. Man hat uns berichtet, dass die Deutschen Anfang Oktober vier junge Männer, die sie aus Casa­glia von Caprara verschleppt hatten, ein Grab haben graben lassen, um eine allen gut bekan­nte arme alte Frau zu bestatten: Ar­temisia, die von den Almo­sen der guten Nachbarn der Kirche lebte, war nach dem Massa­ker auf dem Friedhof am Leben geblie­ben, sie war aber schwer verwundet und klagte ununterbrochen. Zwei Tage lang hatte jemand ihr heimlich etwas zum Trinken ge­bracht und sie von dort zum Poggio transportiert, wo sie kurz danach gestorben ist. Gerade hatten die vier jungen Männer ihr Mitleidswerk ab­geschlossen, als eine MG-Salve sie direkt auf diesem Grab umgebracht hat. Leider sind die vier Leichen nach 11 Monaten noch unbegraben, weil die Minen eine Annäherung unmöglich machen.

Am Friedhof von Casaglia, Ziel unserer Reise, bekommen wir einen Stich ins Herz. Die Gräber verwüstet, fast die ganze Um­gebungsmauer eingestürzt, die Kapelle bis auf ein Drittel der Fas­sade abgestürzt, alle Grabsteine aus Marmor sind von den deutschen Barbaren entwendet worden. Sie haben sie ver­wendet, um irgend einen Luftschutzraum abzudecken, den sie sich als Schutz gegen die Bomben gebaut haben (und der im­mer noch nicht betreten wurde, weil man sich beinahe si­cher ist, das er vermint ist). Links von der Todeskapelle ist das große Grab, wo die bedauernswerten Überlebenden in jenen tragischen Tagen in großer Eile die Körper der 84 Opfer be­graben haben, leider sehr gedrängt. Das große Grab ist wie das in Cerpiano von Eisenbruch­stücken umgeben, und ein gro­bes Holzkreuz mit einem eilig ein­geschnitzten Schrift­zug weist auf die Zahl der Opfer und die Ursache ihres Todes hin.

Wir haben Caprara von weitem als Trümmerhaufen gesehen. Desglei­chen San Martino. Man kann nicht einmal nachvoll­ziehen, wo die schö­ne Kirche mit ihrem schlanken Kirchturm gestanden hat, die die Sicht auf diesen Kamm so anmutig ge­staltet hat.

Als wir nach Gardeletta durch den langen Maultierpfad, der an den kleinen Häusern ‚al Possatore‘ und ‚alle Porte‘ entlang ver­läuft, absteigen, stellen wir fest, dass alle Häuser am Boden liegen.

Unten im Tal ist die Siedlung Gardeletta beinahe unversehrt, weil sie einige Zeit Niemandsland und dann von den Alliierten besetzt war. Aber die Häuser wurden von den Deutschen voll­ständig ge­plündert, einschließlich fast aller Türen und Fenster. Die Über­lebenden aus den Bergen und aus den nahen zer­stör­ten Ort­schaften im Tal haben darin Schutz gesucht und sie bis zum letzten be­wohnbaren Loch in Besitz genommen.

Wir treffen zuerst am Ende des Abstieges die Familie Vanetti aus Dizzola. Alle vier haben überlebt, aber die 20-jährige Tochter Paolina hat beide Hände verloren. Die arme Mutter weint beim Gedanken an die Zukunft der Unglücklichen. Beim Betreten des Dorfes springt das völlig verbrannte Haus der Piretti ins Auge. Dies Unglück sollte noch passieren! Im Juli 1945 hat ein Funke aus dem nahen Backofen Muni­tion, die in der Nähe versteckt war, zur Explosion gebracht. Drei Frauen, die mehrere Massaker über­lebt hatten, sind schmerzhaft ge­storben, drei andere Personen wur­den verletzt. So erlebte der gute Mau­rerpolier Gigetto Piretti, der sich im Dorf so wohlverdient gemacht hat und in Cerpiano die Frau, drei seiner vier Kinder und viele enge Verwandte verloren hat, noch dieses schmerzhafte Ereignis: Der einzig übrig geblie­bene Sohn wur­de verletzt, das Haus zerstört.

Eure Eminenz hat bei Ihrem so erwünschten und will­kom­me­nen Besuch am 24. August 1945 diese armen Leute demo­ra­lisiert, fast abwesend vorgefunden. Jeder hätte eine Geschichte des Schmer­zes und der Angst erzählen können.

Das aktuelle Leben dieser Menschen ist wirklich sehr armselig. Fast allen fehlt das Lebensnotwendige, weil die Erde nichts her­vorgebracht hat. Im ganzen Gebiet ist kein einziges Huhn, also keine Eier. Sie haben weder Beilagen noch Fleisch noch Milch. Sie haben keinen Strom und die Wasserpumpe hat nur einige Tage funktioniert. In den Häusern fehlt alles Nötige: Möbel ohne Schubladen, ohne Füße, notdürftig zusammen­ge­schustertes Zu­behör. Waschschüssel und Krüge fehlen voll­kommen. Einige be­nützen geleerte Munitionskassetten, um sich zu waschen. Besteck ist zu einer Legende geworden. Keine Laken, keine Wäsche, Trikots, Socken usw.

Für jeglichen Antrag auf Dokumente oder sonstige notwendige Erledi­gungen bei der Gemeinde von Marzabotto, der sie unter­stellt sind, müssen sie unweigerlich auf die Berge steigen, um auf der anderen Sei­te wieder hinabzusteigen: ca. 4 Stunden eines sehr anstrengenden und wegen der Minen und der Sprengstoffe sehr gefährlichen Wegs. Von Vado wären sie nur 4 Km. National­strasse entfernt.

Eure Eminenz hat mit väterlicher Fürsorglichkeit Anordnungen getrof­fen, damit diese teuren Seelen sofort den Beistand der Reli­gion bekom­men können. Aber die Schwierigkeiten für die Unter­bringung der Missionare sind noch nicht gelöst.

Die zwei Töchter von Sant’Angela, die Erzieherinnen Maria Fab­bri und Antonietta Benni, die eine für die Grundschule, die andere (so gut be­kannt und erwartet) für den Kinder­garten, sind schon bereit, mit echtem missionarischem Geist Opfer und Mühsal mit dieser Bevölkerung zu teilen.

Eure

MARY TOFFOLETTI ROMAGNO

 

Nachtrag:

  •  Die Ereignisse, die in dieser Broschüre behandelt werden, sind Teil von den Massakern, die im Herbst 1944 in der Gemeinde Marzabotto und in den Nach­bargemeinden Monzuno und Grizzana stattgefunden haben. Die Dörfer, die erwähnt werden (Caprara, Cerpiano, Casaglia, San Martino u. a.), sind meistens Ortsteile von Marzabotto.
  • Das Städchen Marzabotto befindet sich 25 Km. südlich von Bologna, in einem wichtigen Durchgang der Appenninen.

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