Duldung, Einbürgerung oder Abschiebung? Ein Leben im permanenten Ausnahmezustand: ein Beispiel aus Essen

Duldung, Einbürgerung oder Abschiebung? Ein Leben im permanenten Ausnahmezustand: ein Beispiel aus Essen

Das Antirassismustelefon war gestern zu Besuch bei einer türkisch-libanesisch-stämmigen Familie in der Essener Nordstadt.
Bei köstlichen Speisen und in herzlicher, gastfreundlicher Atmosphäre war ich beschämt von soviel Dankbarkeit.
Dabei habe ich nur zugehört und Fragen gestellt und einen Einblick gewonnen in eine Lebenswelt, die von konsequenter Ausgrenzung und Ächtung geprägt ist.

Seit 1985 lebt die über 50 jährige Mutter der Familie in Kettenduldung in Essen. Sie hat hier 5 Kinder geboren.
Einige leben auch in Kettenduldung, andere haben befristeten Aufenthalt für einen längeren Zeitraum, andere sind schon eingebürgert. Alle sind hier geboren und arbeiten beispielsweise als Zugbegleiter, oder sind Hausfrau und Mutter.

Kettenduldung heißt, alle drei Monate zur Ausländerbehörde gehen und die sogenannte Fiktionsbescheinigung verlängern lassen.

Duldung heißt, keine Veränderung des Aufenthaltsortes (für immer in Essen wohnen), keine Reisefreiheit, keine standesamtliche Hochzeit, kein Wahlrecht, ständige Drohung mit Abschiebung.

Bei den Kindern und Enkelkindern von Geburt an. Bei der Mutter seit 35 Jahren.
In dem Gespräch prüfe ich, ob das ART der Familie helfen kann, im Umgang mit der Ausländerbehörde und mit aktuellen Abschiebeandrohungen.
Die Eindrücke sind vielfältig, die Lösungen nicht in Sicht.

Das Ausmaß des strukturellen Rassismus ist für mich unfassbar. Elementare Bürgerrechte werden Menschen über Generationen verweigert. Pässe werden anscheinend willkürlich eingezogen, Namen nach gut Dünken vergeben?
Vieles ist völlig intransparent, aber unglaublich ungerecht.

Ich frage nach Erfahrungen im Alltag und mit der Polizei.
Wie erlebt ihr Deutschland? Kennt ihr Rassismus?
Die Antworten sind deprimierend.

Über die Jahre ist es schlimmer geworden, erzählen mir die Söhne der Frau
Verachtung, Ignoranz und Beschimpfung im öffentlichen Raum, bei der Arbeit, durch Kunden oder Kollegen ist Normalität. Polizeigewalt bei Kontrollen wird immer häufiger und brutaler, entweder selbst erlebt oder beobachtet.

Ich weiß nicht, ob und wie das Antirassismustelefon helfen kann. Zuhören ist immer ein Anfang.

Dann müssen wir Schritt für Schritt vorgehen.
Können wir vernetzen? Gibt es gute Anwälte?
Brauchen wir Öffentlichkeit? Was genau wollen die Betroffenen, welche Hoffnungen bleiben in jedem Fall unerfüllt?

Das ist ein riesiges Feld.
Das Thema Duldung handhabt jede Kommune anders.
In Essen sind Hardliner am längeren Hebel.

Das hat hier bereits Tradition. Schon Anfang der 2000 sollte in Essen mit Gentests nachgewiesen werden, wer „echter“ Libanese ist und wer ein „Scheinlibanese“ ist.

Dazu passt jetzt die Drohung mit akuter Ausreisepflicht an die Mutter. Sie soll also Mann, Kinder und Enkel verlassen und in den Libanon? Nach 35 Jahren leben in Essen?
Alleine?

Ihr alter Vater ist seit vielen Jahren Deutscher.
Das spielt für die Essener Behörden anscheinend keine Rolle.

Heute esse ich den zweiten Tag das wunderbare libanesische Gemüse/Reis/Mandelgericht.
Alles was ich nicht aufgegessen hatte, musste ich in Tupperwaren mitnehmen.

Im Moment kann ich nichts machen, außer diese Eindrücke hier zu teilen.

Anabel Jujol
aktiv beim Antirassismus-Telefon seit 2017