Gewalt durch Polizei wird geahndet

Gewalt durch Polizei wird geahndet

Der Tag wurde 1997 von politischen Gruppen in der Schweiz und Kanada als Reaktion auf einen besonders brutalen Polizeieinsatz initiiert.

In Deutschland wurde der Tag erstmals 2015 begangen, angestoßen von der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP).

Polizeigewalt ist kein Kavalierdelikt, und noch weniger, wenn es rassitisch „gefärbt“ ist. Sie schädigt die Betroffene, sie schädigt die Gesellschaft als ganzes, unterminiert den Zusammenhalt und das Vertrauen in den Rechtsstaat. Viel zu oft scheint es unmöglich zu sein, dass Polizeigewalt geahndet wird. Häufig genug wird auf eine Anzeige wegen Polizeigewalt mit einer in der Sache unberechtigten Gegenanzeige geantwortet; auch bedingt durch den „Korpsgeist“ unter Polizisten stehen Opfer anschließend als Schuldige da..

Aber auch in Essen haben sich in der letzten Zeit einzelne mutige KollegInnen diesem Vorgehen entgegengesetzt und vor Gericht die Wahrheit verkündet

Darum freuen wir uns besonders, wenn wir in der lokalen Presse lesen können, dass ein Rechtsanwalt Anzeige wegen polizeilicher Gewaltanwendung (im Sinne seines Mandanten/seiner Mandantin) stellen konnte.

Hier der Artikel aus der lokalen Presse:

WAZ,  / Essen, 15.03.2023

Anwalt prangert „Polizeikomplott“ an

In der Polizei-Inspektion Mitte in der Innenstadt ist ein Routine-Einsatz am 4.März 2020 aus dem Ruder gelaufen.

Von Gerd Niewerth

In der Polizei-Inspektion (PI) Mitte in der Essener Innenstadt läuft ein Routine-Einsatz aus dem Ruder. Der Vorfall liegt schon exakt drei Jahre zurück, vollends aufgeklärt ist er hingegen immer noch nicht. Jetzt fährt der Dortmunder Strafverteidiger Cornelius Birr schweres Geschütz gegen das Essener Polizeipräsidium auf. In einer Strafanzeige wirft er mehreren Polizeibeamten der PI Mitte eine lange Liste schwerer Vergehen vor: von gefährlicher Körperverletzung im Amt durch Schlagstock-Einsatz über uneidliche Falschaussage bis hin zu Freiheitsberaubung und Verfolgung Unschuldiger.

Die Vorwürfe gehen über die Sammelbegriffe Polizeigewalt und Rassismus hinaus. Für Rechtsanwalt Birr steht fest, „dass gegen meinen Mandanten ein Polizeikomplott geschmiedet wurde“.

Das Essener Polizeipräsidium hält sich in dieser Causa auf Anfrage bedeckt. „Polizeibehörden äußern sich grundsätzlich nicht zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen. Auch zu einzelnen Beamten/Personen äußern wir uns nicht“, sagte ein Polizeisprecher.

Frau möchte Taschendiebstahl anzeigen – Situation eskaliert

Zwölf Seiten umfasst die Strafanzeige, die im Januar bei der Staatsanwaltschaft Essen eingegangen ist. Zusätzliche Brisanz gewinnt sie, weil sich die Vorwürfe zum Teil gegen dieselben Beamte richten, die wegen ähnlicher Vorfälle  mutmaßlicher Polizeigewalt bereits unangenehm aufgefallen waren.

Ein Blick zurück – es ist der 4. März 2020: Eine Frau aus Nigeria erscheint mit ihrer Tochter in der PI Mitte, weil sie einen Taschendiebstahl anzeigen möchte. Doch so weit kommt es nicht, stattdessen eskaliert die Situation auf dramatische Weise.

Zwei Söhne erscheinen ebenfalls auf der Wache, um der Mutter beizustehen. Auskünfte erhalten sie jedoch nicht. Aus Frustration habe sein Mandant „gegen die innere Glastür der Polizeiwache Mitte geschlagen, ohne anderweitig bedrohlich oder aggressiv gegen Personen gewesen zu sein“, erklärt der Anwalt. Gleichwohl seien die Söhne „von mehreren Polizeibeamten – teils unter Verwendung von Schlagstöcken – gemeinschaftlich und ohne Vorwarnung angegriffen und geschlagen“ worden. Die Söhne flüchten, sie werden von Polizisten durch die Innenstadt verfolgt. Gegen einen der beiden – Birrs MandatA.* – sei ferner Pfefferspray eingesetzt worden.


Kasten

Polizeibehörden äußern sich grundsätzlich nicht zu disziplinarrechtlichen Maßnahmen. Auch zu einzelnen Beamten / Personen äußern wir uns nicht.
Ein Polizeisprecher

Die Vorwürfe gegen die Polizisten sind in beiden Fällen so schwerwiegend, dass die Beamten auf die Anklagebank gehören.
Cornelius Birr, Strafverfolger


Nicht nur diese Zeitung berichtete damals über den Vorfall, er sorgte auch bundesweit für Schlagzeilen und verbreitete sich rasch in sozialen Netzwerken.

Die juristische Aufarbeitung beginnt aus Sicht der nigerianischen Familie mit einem Schock. Denn die Essener Polizei leitet gegen den Sohn A., der sich als Opfer von Polizeigewalt sieht, ein Strafverfahren ein wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte sowie Beleidigung in zwei Fällen.

Es kommt zum Prozess vor dem Amtsgericht, A. findet sich auf der Anklagebank wieder. Doch das Verfahren endet für die Polizei mit einem Fiasko. A. wird freigesprochen und – mehr noch – im Urteil hält der Richter fest, dass der Polizeibeamte B.* vor Gericht gelogen hat. Rechtsanwalt Birr: „MeinMandant wurde geschlagen und misshandelt. Danach wurde ein Strafverfahren gegen ihn eingeleitet, mutmaßlich um die Misshandlungen zu vertuschen und den Geschädigten zum vermeintlichen Täter zu machen.“ Es ist ein ungeheurer Vorwurf, der im Raum steht: Haben Polizeibeamte der PI Mitte das Gewaltmonopol des Staates übel missbraucht?

Der Strafverteidiger weist in seiner Anzeige auf einen weiteren Fall hin, der bemerkenswerte Parallelen aufweist – einschließlich der handelnden Polizisten. Am 20. Dezember 2019 geraten zwei Männer auf der Gladbecker Straße (B224) in Essen um 2.45 Uhr in eine Polizeikontrolle . Auch diese läuft aus dem Ruder. Wie sich später anhand eines Handy-Mitschnittes herausstellen wird, werden die Männer von den Polizisten geschlagen, wüst beleidigt, bedroht und durch Pfefferspray verletzt.

Die Parallelen zum Fall in der PI Mitte: Die Polizeibeamten B. und C.* tun sich auch bei diesem Einsatz hervor. Und auch hier leitet die Polizei danach ein Strafverfahren gegen die mutmaßlichen Opfer von Polizeigewalt ein: wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Die dritte Parallele: Auch hier kommt es zu einem Freispruch – sogar in zwei Instanzen. Die resolute Amtsrichterin Margrit Lichtinghagen schreibt den Polizisten ins Stammbuch, dass man hierzulande noch keine „amerikanischen Verhältnisse“ habe – eine deutliche Anspielung auf den aufsehenerregenden Fall des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der im Mai 2020 durch Polizeigewalt ums Leben gekommen war.

Anwalt Birr vergleicht beide Essener Fälle und sieht den „begründeten Verdacht, dass es erst zu rechtswidriger Polizeigewalt gekommen war und dann zur Vertuschung falsche Strafanzeigen gefertigt wurden“.

Juristisch kommen die Polizisten wegen der Aktion an der B224 mit einem blauen Auge davon. Sie werden zwar angezeigt wegen Körperverletzung im Amt und anderer Delikte. Doch die Staatsanwaltschaft Essen stellt das Verfahren nach Paragraf 153a Strafgesetzbuch gegen Zahlung einer Geldstrafe von je 2000 Euro ein. Ein Vorgehen, das in den Augen des Anwalts nach Mauschelei schmeckt. „Die Vorwürfe gegen die Polizisten sind in beiden Fällen so schwerwiegend, dass die Beamte auf die Anklagebank gehören“, findet Cornelius Birr.

Aufnahmen der Bodycams könnten Wahrheitsfindung dienen

Im September 2020 war ein weiterer Fall mutmaßlicher Polizeigewalt in der PI Mitte bekannt geworden. Ein Polizeischüler hatte behauptet, ein Polizeibeamter habe einem festgenommenen und wehrlosen Schwarzafrikaner auf der Innenstadtwache einen Karton auf den Kopf gesetzt und ihm dann einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hatte das Verfahren wegen „Körperverletzung im Amt“ später eingestellt. Der Vater des Kommissaranwärters, ein früherer Essener Staatsanwalt, brachte den Fall vor den Petitionsausschuss des Landtages und prangerte ein „Schweigekartell“ an. Der Polizeischüler, der seine Ausbildung zunächst hatte beenden müssen, ist inzwischen wieder im Polizeidienst tätig.

Auch im aktuellen Fall dringt der Strafverteidiger darauf, das Verfahren gegen die Beamten zwingend öffentlich durchzuführen, anstatt es totzuschweigen. „Die Öffentlichkeit hat ein maßgebliches Interesse daran, vor staatlichem Handeln der geschilderten Art geschützt zu werden.“

Entscheidenden Anteil an der Wahrheitsfindung könnten im Fall der nigerianischen Familie die Filmaufnahmen haben, die Beamte der PI Mitte an jenem 20. März 2020 mit ihrer Bodycam angefertigt haben. Diese Kameras dienen hauptsächlich dazu, Angriffe auf Polizeibeamte zu verhindern oder sie besser aufklären und Täter dingfest machen zu können. Gleichzeitig zeichnen sie – so auch in diesem Fall – Handlungen von Polizeibeamten und weiteren Beteiligten präzise auf. Für den Dortmunder Anwalt rücken sie das Verhalten der Polizisten in ein schlechtes Licht. „Durch die Bodycam-Aufnahmen konnte belegt werden, dass die meinem Mandaten zur Last gelegten Taten schlicht herbeigelogen wurden, um Fehlverhalten der Polizisten zu vertuschen“, heißt es in der Strafanzeige vom 16. Januar 2022.

▪ Die Namen der Beteiligten sind anonymisiert.


„Es gibt keinen Korpsgeist“

Ehemaliger Polizeipräsident sprach 2020 von „transparenter Fehlerkultur“

Die Essener Polizei stellt in ihrem kurzen Statement klar, dass sie selbst keine strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen Beamte der eigenen Behörde führt. Die Ermittlungen würden in solch einem Fall durch die Polizei Bochum geführt. Die Staatsanwaltschaft Essen wäre Herrin des Verfahrens.

Keine Doppelbestrafung

Außerdem fügt die Polizei grundsätzlich hinzu: „Wenn es zu Strafverfahren gegen Polizisten kommt, wird immer auch ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Dieses wird bis zum Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens ruhend gestellt. Erst nach Abschluss dieses Verfahrens entscheidet sich, ob noch disziplinarrechtliche Maßnahmen in Frage kommen. Es darf keine Doppelbestrafung erfolgen.“

Der damalige Polizeipräsident Frank Richter bezog im Juni 2020 in einem Interview mit dieser Zeitung Stellung zu Gewalt- und Rassismusvorwürfen gegen Essener Polizisten. Wörtlich sagte er: „Ich bin jetzt 44 Jahre in der Polizei und ich sage Ihnen: Es gibt keinen Korpsgeist. Korpsgeist ist ein Wort aus ganz anderen, vordemokratischen Zeiten. Was es gibt und auch geben muss, ist Teamgeist. Und zum Teamgeist gehört, Spielregeln aufzustellen und dann auch jene zur Ordnung zu rufen, die dagegen verstoßen. Das geschieht bei uns, es ist selbstverständlich. Wir pflegen in unserer Behörde eine transparente Fehlerkultur.“ 1)

ENDE DES ARTIKELS

1) Das Anti-Rassismus-Telefon tritt für eine unabhängige Meldestelle ein, die berechtigt ist, im Falle eines vermuteten Fehlverhaltens von PolizistInnen, eine Untersuchung einzuleiten.. Untersuchungen, die bloß durch andere Polizeistellen in einer Nachbarstadt durchgeführt werden, halten wir  fürproblematisch.